State of the Art: Wie der SOTA den Produktlebenszyklus von Medizinprodukten und IVD beeinflusst

10.01.2023
Der State of the Art (SOTA) spielt eine wichtige Rolle in der MDR und IVDR. Innerhalb der Technischen Dokumentation (TD) ist der SOTA stark mit verschiedenen Themen verknüpft, wie z. B. der Klinischen Bewertung/Leistungsbewertung, der wissenschaftlichen Validität, dem Risikomanagement, Nutzen-Risiko-Verhältnis, der Post-Market Surveillance (PMS) und dem Post-Market Clinical Follow-up/Post-Markt Performance Follow-up (PMCF/PMPF).
Die Rückmeldungen unserer Kunden bestätigen, dass der SOTA bei den TD-Prüfungen durch die Benannten Stellen im Fokus steht. Diese wollen unter anderem wissen, wie die Erstellung und Aktualisierung des SOTA umgesetzt wird und ob der SOTA etwa in die Betrachtung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses einfließt. Was das für Sie als Hersteller von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika (IVD) heißt, erfahren Sie in diesem Beitrag.


Wie ist der SOTA für Medizinprodukte und IVD definiert?

Bevor es an die Umsetzung der Anforderungen zum SOTA aus der MDR/IVDR geht, schauen wir uns die Definition des SOTA an: Weder in der Verordnung (EU) 2017/745 (MDR) noch in der Verordnung (EU) 2017/746 (IVDR) finden Sie eine Definition des SOTA. Aufschlussreicher sind hier die Leitlinien MDCG 2020-1 sowie MDCG 2022-2. Beide Leitlinien orientieren sich an der Definition aus dem IMDRF/GRRP WG/N47 FINAL:2018 und definieren den SOTA wie folgt:

State of the art:
Developed stage of current technical capability and/or accepted clinical practice in regard to products, processes and patient management, based on the relevant consolidated findings of science, technology and experience.
Note: The state-of-the-art embodies what is currently and generally accepted as good practice in technology and medicine. The state-of-the-art does not necessarily imply the most technologically advanced solution. The state-of- the-art described here is sometimes referred to as the "generally acknowledged state-of-the-art"

Des Weiteren beinhaltet die MEDDEV 2.7/1 rev. 4 (2016) ebenfalls Informationen darüber, was mit dem SOTA im Rahmen der Klinischen Bewertung gemeint ist:

The current knowledge/ state of the art in the corresponding medical field, such as applicable standards and guidance documents, information relating to the medical condition managed with the device and its natural course, benchmark devices, other devices and medical alternatives available to the target population.

Ergänzend dazu wird im "Blue Guide" (Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016) dargestellt, welche Annahmen zum SOTA im Rahmen der Konformitätsvermutung getroffen werden:

Das Konzept der wesentlichen Anforderungen beruht auf der Annahme, dass die harmonisierten Normen den allgemein anerkannten Stand der Technik widerspiegeln und die europäischen Normungsorganisationen Normen regelmäßig überarbeiten. […]

Des Weiteren kann auch in Fällen, in denen der Hersteller keine harmonisierten Normen verwendet, eine Änderung der einschlägigen harmonisierten Norm auf eine Änderung beim Stand der Technik hinweisen, was zu der Schlussfolgerung führt, dass das Produkt nicht mehr konform ist. […]

Zusammengefasst soll der SOTA aus den relevanten Informationen aus (harmonisierten) Normen, Guidances/Leitlinien und wissenschaftlicher Literatur abgeleitet werden.

Noch wichtiger als eine allgemeine Definition ist eine spezifische Definition zum SOTA innerhalb des Unternehmens, welche zu Ihren Produkten passt. Beschreiben Sie in den relevanten Prozessen, wie tief die Recherchen gehen sollen, welche alternativen Methoden einbezogen werden sollen und welche begründet ausgeschlossen werden. Eine klar geregelte Vorgehensweise ist unbedingt zu empfehlen, da der SOTA ohne Eingrenzungen zum Fass ohne Boden werden kann. Dies hilft Ihnen auch im Rahmen der TD-Prüfungen – und erspart Ihnen die eine oder andere Rückfrage durch Ihre Benannte Stelle.

Welche Anforderungen stellen MDR und IVDR zum SOTA?

Es gibt keine klare Definition des SOTA in der MDR/IVDR und es wird auch kein konkretes Dokument dazu gefordert. Allerdings enthalten beide Verordnungen diverse Verweise auf den SOTA. Diese finden Sie unter anderem in den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (engl. GSPR):
  • In den GSPR 1, 4 und 17.2 (MDR) und in den GSPR 1, 4, 9.1 und 16.2 (IVDR) wird direkt Bezug zum SOTA genommen.
  • Die GSPR 1 stellt dar, dass der SOTA viele Bereiche des Produktlebenszyklus beeinflusst und an den entsprechenden Stellen analysiert werden muss: Produktauslegung, Herstellung, Klinische Bewertung/Leistungsbewertung und Risikomanagement.
  • Die GSPR 4 fordert, dass der SOTA bei den Maßnahmen zur Risikokontrolle berücksichtigt werden muss.
  • Die GSPR 9.1 der IVDR fordert, dass der SOTA bei der Leistungsbewertung berücksichtigt werden muss.
  • Und GSPR 17.2 in der MDR (16.2 bei IVDR) stellt dar, dass der SOTA bei Softwareprodukten oder Produkten, die Software als Bestandteil beinhalten, eingehalten werden muss.
Die Betrachtung des SOTA wird darüber hinaus noch im Rahmen des PMS gefordert.

Welchen Einfluss hat der SOTA auf den Produktlebenszyklus?

Idealerweise betrachten Sie den SOTA zu Beginn der Entwicklung und aktualisieren diesen regelmäßig. Warum wir das empfehlen? Wenn der SOTA ab der Produktidee bekannt ist, kann dieser z. B. für
  • Entwicklung/Design (Welche Technologie, Material etc. wird verwendet?),
  • Herstellung (Welche Methoden und Maschinen etc. werden verwendet?),
  • Klinischen Nachweis (Welche klinischen Methoden sind etabliert und haben ausreichend klinische Daten?) und
  • Biologische Sicherheit (Welche Materialien sind geeignet?)
entscheidende Hinweise geben.

Viele Hersteller setzen dies – teilweise indirekt – durch Marktanalyse, Literaturrecherche zur Technologie beziehungsweise die Leistung von Wettbewerbern oder durch Berücksichtigung von diagnostischen Leitlinien um. Ziel dessen ist es, ein markt- und wettbewerbsfähiges Produkt zu entwickeln.

In der Praxis sehen wir, dass der SOTA oft zu einem viel späteren Zeitpunkt recherchiert wird: Das Produkt ist schon lange im Markt und wir werden beispielsweise im Rahmen einer Klinischen Bewertung/Leistungsbewertung dazu beauftragt, den State of the Art (SOTA) noch "mit" zu recherchieren. Dies ist grundsätzlich möglich, allerdings reicht es nicht aus, den SOTA nur in diesem Kontext zu betrachten. Wir haben ein Schaubild erstellt, um die Auswirkungen des SOTAs auf den gesamten Produktlebenszyklus greifbar zu machen:

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Wie im Schaubild ersichtlich, beeinflusst der SOTA auch das Risikomanagement: Dieser liefert Input für die Akzeptanzkriterien und die Mitigation von Risiken. Zusätzlich definiert der SOTA die Kriterien für die Nutzen-Risiko-Analyse (Benefit-Risk Ratio) und verifiziert regelmäßig die Akzeptanzmatrix der Risikoanalyse. Der SOTA beeinflusst maßgeblich die Tiefe und den Umfang des klinischen Nachweises (Clinical Evaluation Plan/Performance Evaluation Plan). Für die Klinische Bewertung/Leistungsbewertung liefert der SOTA wichtige Informationen zu Endpunkten, Akzeptanzkriterien, zu testende Parameter und wissenschaftliche Validität für IVDs. Weiter hat der SOTA Einfluss auf die biologische Bewertung und liefert relevante Informationen – beispielsweise zu Materialeigenschaften und Einsatzgebieten. Das PMCF/PMPF Ihrer Medizinprodukte/IVDs beeinflusst der SOTA ebenfalls: Dieser kann zum Beispiel klinische Prüfungen/Leistungsstudien oder Literatursuchen triggern, was im PMCF-/PMPF-Plan dokumentiert wird.

Wir empfehlen: Wenn das Produkt auf dem Markt ist, sollte der SOTA im Rahmen der PMS-Aktivitäten regelmäßig aktualisiert werden. Definieren Sie in Ihrem PMS-Plan die Recherche für das Update des SOTA, und im PMS-Report oder PSUR (je nach Produktklasse) analysieren und bewerten Sie die Ergebnisse. Stellen Sie sich in Bezug auf die Entwicklung/Design und die Herstellung die Frage, ob es z. B. mittlerweile Materialien oder Herstellungsverfahren gibt, die für Ihr Produkt besser geeignet sind. Diese Aspekte sollten in die Weiterentwicklung Ihrer Produkte sowie in die Entwicklung von Nachfolgeprodukten ebenfalls einfließen.

Wie wird der SOTA erstellt und aktualisiert?

Sinnvoll ist eine regelmäßige Aktualisierung des SOTA im Rahmen der PMS-Aktivitäten (Prozess) und im Zuge der Aktualisierung der Leistungsbewertung/Klinischen Bewertung, um Veränderungen im Markt wahrzunehmen. Jede relevante neue Information oder Entwicklung im Feld sollte die Neubewertung der Risikoanalyse und des klinischen Nachweises anstoßen. Welche Frequenz dafür angemessen ist, hängt von Ihrem Produkt und dem Umfeld des Produktes ab.

Fazit

Das Thema rund um den State of the Art (SOTA) ist komplex und umfangreich, und es ist gar nicht so einfach, diesen immer und überall präsent zu haben – wir wissen, wie herausfordernd das für Hersteller sein kann. Erstellen Sie eine gute Strategie zum Umgang mit dem SOTA, da der SOTA im gesamten Produktlebenszyklus wichtig ist – von der ersten Idee bis hin zu PMS. Wie Sie abteilungsübergreifend einen Zugang zu dem Thema schaffen, und wie sich das in der Praxis umsetzen lässt? Wir unterstützen Sie gerne bei all Ihren Fragestellungen rund um State of the Art im Rahmen der MDR/IVDR. Ebenso stehen wir Ihnen bei allen weiteren Fragen zur Technischen Dokumentation sowie zu TD-Prüfungen zur Seite.

Sie benötigen keine tatkräftige Unterstützung, sondern wollen sich eine fachliche Meinung einholen? Wir haben sowohl intern als auch mit unseren Kunden schon oft diskutiert, ob der SOTA ein eigenständiges Dokument sein soll oder nicht. Wie immer gibt es für alles Vor- und Nachteile, wodurch unsere Antwort weder "ja" noch "nein" lautet.
Wie stehen Sie dazu? Für welche Variante haben Sie sich in Ihrem Unternehmen entschieden und wie realisieren Sie einen "lebendigen" SOTA? Wir sind bereit für Ihre Fragen!


Beste Grüße
Dr. Sandra Reuter und Katharina Thievessen

   
Dr. Sandra Reuter    Katharina Thievessen
IVD Expert
Technical Documentation   
& Regulatory Affairs   
Head of Operations,
Technical Documentation
& Regulatory Affairs
+49 621 123469-032    +49 621 123469-019
sandra.reuter@metecon.de    katharina.thievessen@metecon.de


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