Das kooperative Zusammenspiel zwischen Risikomanagement und Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten

04.12.2023
In der Welt der Medizinprodukte stehen Sicherheit und Wirksamkeit an erster Stelle. Entwickler und Hersteller bewegen sich jedoch in einem ständigen Balanceakt, bei dem sie die Harmonisierung zwischen Risikomanagement und Gebrauchstauglichkeit beherrschen müssen. Die Schnittstelle zwischen beiden Prozessen ist von größter Bedeutung, da sie sich nicht nur auf die Zuverlässigkeit, Sicherheit und Qualität der Produkte auswirkt, sondern auch auf die Regulatory Compliance und den Mehrwert, den die Produkte für die Gesundheitsversorgung bieten.

In diesem Beitrag befassen wir uns mit dem regulatorischen Rahmen, dem Zusammenhang zwischen Risikomanagement und Gebrauchstauglichkeit und mit der zentralen Frage: Wie können Sie, als Hersteller, beide Prozesse nach bestem Wissen und Gewissen kombiniert durchführen?


Wie sieht der Regelungskontext für beide Prozesse aus?

Risikomanagement

Die Medical Device Regulation (EU) 2017/745 (MDR) der Europäischen Union stellt erhöhte Anforderungen an das Risikomanagement für Hersteller von Medizinprodukten. Das Risikomanagement ist ein entscheidender Bestandteil des Konformitätsbewertungsprozesses für Medizinprodukte und muss gemäß den Bestimmungen der MDR durchgeführt werden. Der Hersteller muss einen Risikomanagementprozess während des gesamten Produktlebenszyklus durchführen und aufrechterhalten. Dies beinhaltet, einen Risikomanagementplan zu erstellen und mögliche Risiken zu identifizieren, zu bewerten und zu minimieren.

Die harmonisierte Norm EN ISO 14971 (aktuell EN ISO 14971:2019+A11:2021) definiert ein strukturiertes Verfahren des Risikomanagements in Übereinstimmung mit den MDR-Anforderungen zur Identifizierung, Bewertung und Beseitigung potenzieller Risiken, die durch technische und klinische Leistungen des Medizinprodukts entstehen. Die Norm fordert eine Reihe von systematischen Prozessen, die die Sicherheit und Leistung des Produkts bewerten, um Schäden für Patienten, Anwender und sogar die Umwelt während ihres gesamten Produktlebenszyklus zu verhindern.

Gebrauchstauglichkeit

Die MDR legt auch umfangreiche Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit und Ergonomie von Medizinprodukten fest, um die Risiken durch einen Gebrauchsfehler für Patienten, Anwender und Dritte zu verringern. Dazu gehören Artikel 5 und Anhang I.

Artikel 5 der MDR legt den Schwerpunkt auf die Berücksichtigung der Zweckbestimmung des Produkts bei der Erfüllung der Anforderungen in Anhang I. Dies führt zur Definition der Zweckbestimmung und der bei ihrer Beschreibung zu berücksichtigenden Aspekte, insbesondere in Bezug auf die vorgesehenen Anwendergruppen und die vorgesehene Anwendungsumgebung.

Anhang I enthält in den Absätzen 3, 5, 14, 21 und 22 ebenfalls Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit, und zwar hinsichtlich:
  • der Analyse des vorhersehbaren Gebrauchsfehlers im Hinblick auf spezifische Risiken aufgrund fehlender ergonomischer Merkmale,
  • der Festlegung von Maßnahmen zur Beseitigung oder Verringerung dieser Fehler,
  • der Ergonomie und der Verständlichkeit von Anzeigen sowie
  • der Anforderungen an Produkte, die für die Verwendung durch Laien bestimmt sind.

In Übereinstimmung mit den MDR-Anforderungen bietet die IEC 62366-1 (aktuell: IEC 62366-1:2015+COR1:2016+A1:2020) eine strukturierte Methodik für das Usability Engineering von Medizinprodukten und spezifiziert einen Prozess zur Analyse, Spezifikation, Entwicklung und Bewertung der Gebrauchstauglichkeit in Bezug auf die Sicherheit. Dieser Prozess beschäftigt sich hier mit den menschlichen Faktoren, d. h. wie reibungslos und effizient ein Benutzer mit einem Gerät interagieren kann, um die vorgesehene Zweckbestimmung zu erfüllen.

Aber wie greifen Risikomanagement und Gebrauchstauglichkeit ineinander?


Die Schnittstelle Risikomanagement – Usability

Der Usability-Engineering-Prozess ermöglicht dem Hersteller, die mit dem normalen Gebrauch verbundenen Risiken zu bewerten und zu reduzieren. Dazu gehören sowohl der korrekte Gebrauch des Medizinprodukts als auch die Fehler, die bei der Anwendung des Medizinprodukts auftreten und zu einem anderen Ergebnis führen können als vom Hersteller beabsichtigt oder vom Anwender erwartet, nämlich die sogenannten "Use Errors".

In Bezug auf anormalem Gebrauch kann der Usability-Engineering-Prozess dazu verwendet werden, Risiken zu identifizieren – allerdings nicht, um sie zu bewerten oder zu minimieren.

Beim Risikomanagement hingegen werden sowohl der normale Gebrauch als auch der anormale Gebrauch berücksichtigt, indem die Gefährdungen und Gefährdungssituationen identifiziert, die Risiken bewertet und so weit wie möglich minimiert werden.

Die IEC 62366-1:2020 beschreibt, wie Risikomanagement und Usability ineinandergreifen
(siehe Abbildung 1):

Abbildung 1 Vgl.: IEC 62366-1:2020, Abb. A4: Arten des Gebrauchs, wie in diesem Dokument beschrieben, und ihr Zusammenhang mit dem Konzept "vernünftigerweise vorhersehbarer Fehlanwendung" in ISO 14971


Außerdem definiert der Usability-Prozess die Nutzungsumgebung und die Nutzergruppen oder sogenannte Nutzerprofile, die dazu beitragen können, die damit verbundenen Risiken im Rahmen des Risikomanagements zu definieren.

Oder zusammenfassend: Der Prozess der Gebrauchstauglichkeit ist eine der wichtigsten Ressourcen, um den Risikomanagementprozess angemessen zu ergänzen.

In ähnlicher Weise stellt der Risikomanagementprozess sicher, dass alle Risiken, einschließlich derjenigen, die mit der Gebrauchstauglichkeit zusammenhängen, minimiert werden. Dies geschieht, indem geeignete Maßnahmen in Form von Designmaßnahmen, Schutzmaßnahmen oder Informationen für die Sicherheit und, soweit zutreffend, die Schulung von Anwendern ermittelt werden. Diese Maßnahmen können einen direkten Einfluss auf die Gebrauchstauglichkeit haben. So kann beispielsweise die Vereinfachung eines komplexen Bedienelements die Gebrauchstauglichkeit verbessern und gleichzeitig das Risiko von Bedienungsfehlern verringern.

In einem weiteren Punkt kann die Usability-Testung in Form einer summativen Evaluation unter bestimmten Bedingungen als Nachweis der Akzeptanz des Gesamtrestrisikos dienen und als Argument im Rahmen der Nutzen-Risiko-Analyse verwendet werden.

Aus den obigen Ausführungen geht klar hervor, wie eng die beiden Prozesse miteinander verbunden sind. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie dieses Zusammenspiel gesteuert werden kann, um ein sicheres und effizientes Medizinprodukt zu entwickeln.


Wie kann der Hersteller beide Prozesse kombiniert durchführen?

Um ein sicheres und wirksames Gerät zu entwickeln, muss man ein angemessenes Risikomanagement betreiben und aufrechterhalten - um das Produkt zu verkaufen, muss man aber gleichzeitig seine Benutzerfreundlichkeit garantieren. Hierzu empfiehlt es sich nach bestem Wissen und Gewissen, die folgenden Punkte zu berücksichtigen:
  • Einrichtung eines fachübergreifenden Teams:
    Um die bestmögliche Interaktion zwischen den beiden Prozessen zu erreichen, ist es notwendig, ein interdisziplinäres Team zusammenzustellen, das Experten aus den Bereichen Risikomanagement, Usability, Produktion, Regulierung und Klinik umfasst.
  • Kommunikation im Team:
    Die Zusammenarbeit und der kontinuierliche Austausch zwischen den verschiedenen Teammitgliedern dient der umfangreichen Identifizierung von Risiken, insbesondere in Bezug auf die Gebrauchstauglichkeit.
  • Regulatorische Rahmenbedingungen und Standards:
    Aktuelle Vorschriften und Normenversionen müssen berücksichtigt werden und die Konzipierung der Prozesse gemäß diesen Anforderungen sichergestellt sein.
  • Risikobasierte Usability:
    • Identifikation vernünftigerweise vorhersehbarer Fehlanwendung
    • Planung und Durchführung von Usability-Tests
    • Identifikation von Usability-Problemen durch Testergebnisse
    • Einfließen der Ergebnisse in das Risikomanagement
    • Durchführung von Maßnahmen zur Risikominimierung
    • Validierung der Wirksamkeit dieser Maßnahmen
  • Benutzerzentriertes Design:
    Um die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten zu verbessern, ist ein nutzerzentrierter Designansatz unerlässlich. Bei diesem Ansatz werden die Endbenutzer aktiv in den Designprozess durch die formative Evaluierung einbezogen, um sicherzustellen, dass das Gerät intuitiv und effizient ist und ihren Bedürfnissen entspricht. Auf diese Weise wird die Wahrscheinlichkeit von Anwenderfehlern und damit verbundenen Risiken deutlich verringert.
  • Kontinuierliche Überwachung nach dem Inverkehrbringen (PMS):
    Der Risikomanagementprozess muss ständig aufrechterhalten werden. Post-Market-Surveillance, Reklamationen, Feedback und neue Erkenntnisse sollten genutzt werden, um kontinuierliche Verbesserungsprozesse durchzuführen, neue Risiken zu identifizieren und neue ergonomische und Usability-bezogene Aspekte zu berücksichtigen.

Ein angemessenes Verhältnis zwischen Risikomanagement und Gebrauchstauglichkeit trägt dazu bei, die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten, und kann auch viel Doppelarbeit, Zeit und Kosten sparen. Aber nicht immer ist dies ein glasklarer Fall ohne Interessenskonflikten; in bestimmten Fällen können Kompromisse notwendig sein. Wenn z. B. die Zahl der Sicherheitsmaßnahmen erhöht wird, um die Risiken zu verringern, kann dies die Gebrauchstauglichkeit eines Medizinprodukts erschweren. Das richtige Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Usability zu finden ist eine Herausforderung, der sich die Hersteller stellen müssen.


Schlussfolgerung

Risikomanagement und Gebrauchstauglichkeit sind eng miteinander verknüpft, wobei die Sicherheit der Patienten im Mittelpunkt steht. Bei einem wirksamen Risikomanagement geht es darum, potenzielle Risiken zu erkennen und zu beseitigen, während die Gebrauchstauglichkeit gewährleistet, dass das Produkt in der klinischen Praxis sicher und effektiv eingesetzt werden kann. Die Sicherstellung, dass das Medizinprodukt nicht nur sicher und wirksam, sondern auch für das medizinische Fachpersonal oder für Laien einfach zu bedienen ist, ist unerlässlich für die Einhaltung der Vorschriften und für den Markterfolg.

Wie sehen Ihre Risikomanagement- und Usability-Prozesse aus? Was sind dabei die größten Herausforderungen für Ihr Unternehmen? Lassen Sie uns darüber sprechen! Wir unterstützen Sie gerne mit unserer umfassenden Expertise.

Herzliche Grüße
Ali Alkhatib


Ali Alkhatib
Regulatory Affairs Expert
Regulatory Affairs & Technical Documentation
Via LinkedIn vernetzen
ali.alkhatib@metecon.de


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